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      Eine rechtliche Betrachtung von Haftung und höherer Gewalt im Zusammenhang mit Liefer- und Produktionsausfällen.

      Der Ausbruch des Coronavirus hat weltweit bereits zehntausende Menschenleben gekostet und viele hundert Millionen Menschen in Quarantäe gezwungen. Viele Länder schließen ihre Grenzen oder intensivieren ihre Kontrollen, Menschen in aller Welt arbeiten von zuhause aus, Fabriken werden entweder geschlossen oder fahren aufgrund von Rohstoffknappheit und Mitarbeiterausfällen ihre Produktion zurück und Entwicklungs- und Produktionsressourcen werden eingesetzt, um Engpässe bei der Herstellung dringend benötigter medizinischer Ausrüstung abzufangen. 

       

      Diese Ausfälle werfen eine Reihe komplexer betrieblicher, finanzieller und rechtlicher Fragen auf, von denen einige sofort angegangen werden müssen, während andere erst später in vollem Umfang zum Tragen kommen werden. Zu den Fragen, die uns wohl auch noch lange nach dem Ende der Krise beschäftigen werden, gehören Haftungsfragen rund um Liefer- und Produktionsausfälle.

       

      Seit Anfang 2020 berufen sich immer mehr Lieferanten auf höhere Gewalt und viele Unternehmen sehen sich selbst gezwungen, ihre Kunden darüber zu informieren, dass sie nicht in der Lage sein werden, Verträge wie ursprünglich vereinbart zu erfüllen. In China bot eine quasi-staatliche Organisation, der China Council for the Promotion of International Trade, lokalen Unternehmen „Zertifikate für höhere Gewalt“ an, um ihnen zu helfen, sich der Haftung für Nichterfüllung oder verspätete Erfüllung zu entziehen. Während solche Zertifikate von westeuropäischen Behörden in der Regel nicht ausgestellt werden (obwohl sie in den GUS-Staaten durchaus üblich sind), haben zahlreiche europäische Anbieter inzwischen ähnliche Ansprüche geltend gemacht. Oft werden Unternehmen darüber in Kenntnis gesetzt, dass Waren nur dann versandt werden, wenn der Kunde einen höheren Preis akzeptiert, um z. B. (behauptete) gestiegene Transportkosten zu kompensieren. Andernorts werden Liefermengen einseitig reduziert, um andere Aufträge erfüllen zu können. Unter Normalbedingungen würde ein solches Vorgehen vermutlich auf einen Vertragsbruch hinauslaufen und die geschädigte Partei berechtigen, Schadenersatz zu fordern und andere Rechtsmittel einzulegen. In der gegenwärtigen, außerordentlichen Situation stellt sich jedoch die Frage, ob solche Ausfälle durch die globale Covid-19-Pandemie entschuldigt werden können.

       

      Aus rechtlicher Sicht hängt die Möglichkeit zur Berufung auf höhere Gewalt (oder ähnlichen Überlegungen wie der Unmöglichkeit) von einer Reihe von Faktoren ab, die in jedem Einzelfall geprüft werden müssen. Allgemein gilt, dass höhere Gewalt nur dann geltend gemacht werden kann, wenn die Vertragserfüllung durch ein unvorhersehbares und unvermeidbares von außen kommendes Ereignis, das nicht durch angemessene Maßnahmen abgewendet werden kann, unmöglich wird. Diese Voraussetzungen mögen für einige der gegenwärtigen Ausfälle durchaus erfüllt sein, aber viel wird davon abhängen, was im konkreten Vertrag über Liefertermine, verbindliche Mengenzusagen, Kündigungsrechte und ganz allgemein über die Risikoverteilung zwischen den Vertragspartnern festgelegt wurde. Auch wenn gestiegene Herstellungs- oder Transportkosten in der Regel nicht zu einseitigen Preisanpassungen berechtigen, kann es durchaus Situationen geben, in denen die Veränderung der äußeren Umstände so schwerwiegend ist, dass eine Anpassung gesetzlich gerechtfertigt sein kann.

       

      Solange die Krise noch andauert, lässt sich die Rechtmäßigkeit der Berufung auf höhere Gewalt, der Haftung für verspätete Lieferungen oder voneinseitigen Preiserhöhungen nur schwer beurteilen. Viele Unternehmen müssen jetzt schnell entscheiden, wie sie angesichts sich dynamisch verändernder externer Parameter, so z. B. staatliche Einschränkungen, am besten mit Kunden und Geschäftspartnern kommunizieren Insoweit sich Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit Haftungsfragen ergeben, werden viele von ihnen hoffentlich zu einem späteren Zeitpunkt informell auf dem Verhandlungswege ausgeräumt werden. Angesichts des schieren Ausmaßes der Krise besteht jedoch kein Zweifel daran, dass in vielen Fällen Gerichts- oder Schiedsverfahren notwendig werden, um zu rechtsverbindlichen Schlussfolgerungen zu gelangen, insbesondere in Situationen, in denen viel auf dem Spiel steht.

       

      In Anbetracht dieses Risikos sind Unternehmen gut beraten, umgehend einen Ansatz zur systematischen Dokumentation der spezifischen Umstände, unter denen Ansprüche geltend gemacht werden, sowie des vertraglichen Rahmens, innerhalb dessen sie geprüft werden müssen, zu entwickeln. Diese Dokumentation sollte Informationen über die Art des genauen Hinderungsgrundes enthalten, auf den sich Ansprüche oder Einwendungen stützen, wie z. B. die vorübergehende Schließung einer bestimmten Produktionsstätte, aber auch über die spezifischen Auswirkungen dieses Ereignisses auf die Verpflichtungen der anderen Partei. Die Dokumentation sollte sich zudem auch auf formale Fragen erstrecken, wie z. B. das anwendbare Recht und den vereinbarten Streitbeilegungsmechanismus, die Einhaltung von Mitteilungspflichten und den verfügbaren Versicherungsschutz. Und schließlich, und das ist wichtig, müssen interne Abhilfemaßnahmen sorgfältig geprüft und dokumentiert werden. Denn Gerichte, die mit potenziellen Haftungsansprüchen konfrontiert sind, werden wissen wollen, welche Schritte unternommen wurden, um die Auswirkungen der Nichterfüllung einer anderen Partei zu minimieren, sowohl vor als auch nach Eintritt der Störung. 

       

      ERP-Systeme wie SAP spielen dabei eine wichtige Rolle, da sie nicht nur den Zugriff auf entscheidenden betriebswirtschaftlichen Daten für bestehende Lieferbeziehungen ermöglichen, sondern darüber hinaus auch Informationen über vorliegenden Störungen systematisch erfassen können. Insbesondere in Branchen mit vielen Liefer- bzw. Vertriebsbeziehungen ist es hilfreich, Ressourcen aus den Bereichen Betriebswirtschaft, Finanzen, Recht und IT zu bündeln, um einen praktischen Rahmen sowie Prozesse für die Sammlung und Verwaltung relevanter Informationen zu definieren. Erfahrungsgemäß zahlt es sich aus, sich frühzeitig mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, sowohl im Hinblick auf Verhandlungen mit Geschäftspartnern als auch im Vorgriff auf mögliche Verfahren.

       

      Von Anne-Catherine Hahn


      Über die Verfasserin:

      Hahn

      Anne-Catherine Hahn ist Partnerin bei IPrime Legal Ltd, einer Boutique-Kanzlei für Patent- und Markenrecht sowie ICT- und Technologierecht mit Sitz in Zürich (https://www.iprime.law). Auf Grundlage ihrer langjährigen praktischen Erfahrung, die sie als Mitarbeitern und Partnerin einer führenden internationalen Kanzlei (Baker McKenzie) gesammelt hat, ist sie als Rechtanwältin, Schiedsrichterin und Schlichterin in Handelsstreitigkeiten und Compliance-Fragen tätig. Darüber hinaus ist sie als Dozentin an Universitäten und Fachhochschulen in der Schweiz tätig und Präsidentin einer Schlichtungskommission für Gleichstellungsfragen des ETH-Bereichs, einem Schweizer Netzwerk von hochrangigen technischen Universitäten und Forschungsinstitutionen.

       

      Date Published: Apr 16, 2020
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